Am 09. November 1989 wurde bekanntlich die Mauer geöffnet. Wir - meine Mutter und ich - haben das Ereignis jedoch im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen. Mein Vater hatte Nachtdienst und hielt es nicht für nötig uns von diesem epochalen Ereignis telefonisch zu unterrichten. Während am Freitag in der Schule noch ordentlich Betrieb war, genossen wir am Samstag schon fast Einzelunterricht. Ich verabredete mich mit zwei Kumpels, das wir auch mal "rübermachen" wollen.
Gesagt getan. Am provisorischen Grenzübergang Heinrich-Heine-Str. zwischen Friedrichshain und Kreuzberg ging für uns in den unbekannten Westteil der Stadt. Das Gedränge war so groß, dass an Passkontrollen nicht zu denken war. Mann und Frau hielt einfach seine blaue Pappe (Personalausweis) in die Höhe und wurde über die Grenze gegangen. Ich weiß gar nicht mehr wo ich überall war, mit wem ich mich unterhalten habe und was ich eigentlich dort wollte. Ich wollte das einfach nur mal sehen, mich treiben lassen. Ich weiß nur noch, dass wir aus irgendeinem Eisenwarenladen mit einem lila Vorhängeschloss hinauskamen und uns einer "Demonstration" (einer meiner Kumpels, der schon mal im Westen war) anschlossen, die sich später als direkter Weg zu einer Bank ohne elend langer Schlangen und mit noch gut gefüllten Kassen an Begrüßungsgeld herausstellen sollte.
Als wir uns auf den Rückweg machten, war es schon dunkel geworden. Das kam uns entgegen, denn am Grenzübergang hatten sich die Massen merklich gelüftet. Einer von unseren Gefährten hatte nun ein Problem. Er hatte noch keinen Personalausweis, da er noch keine 14 war und ist mit seinem blauen FDJ Ausweis über die Grenze gegangen. In der Masse ist dies untergegangen und nun hofften wir dies für die Dunkelheit. Dem war leider nicht so und er wurde rausgefischt. Die Furcht war jedoch größer als gedacht, das ganze lief ganz glimpflich mit einer kleinen Ermahnung ab.
Fast zurück zu Hause schlug meine große Stunde. Irgendwie kam mir spontan die Idee 500 Meter von der heimischen Wohnung entfernt dort noch einmal anzurufen: "... Mutter? ... ick bins... Mutter, ... ick bleib im Westen" Ich hatte das noch gar nicht ausgesprochen schallte es durch die Drähte "DU KOMMST SOFORT ZURÜCK!!!" Ich konnte sie dann nur schwer beruhigen das ich bereits gleich um der Ecke war. Meinen Vater hatte sie dann auch noch angeraunzt "und Du sitzt hier einfach seelenruhig rum, während der Junge..." Und so habe ich mir meine einschneidenste Erinnerung an die Wendezeit im November 1989 selbst inszeniert.