Vor etwa 21 Jahren wurde ich einem schwerwiegenden Kulturschock ausgesetzt: Meine Eltern zogen aus der 3 Millionen Stadt Berlin in das schwäbische dreißigtausend Seelen Kaff Tuttlingen. Und - wie man sich vorstellen kann - war ich hiervon überhaupt nicht begeistert. Zumal ich eine Schlafstätte in Berlin gehabt hätte. Zum Glück - im Nachhinein - ließen sich meine Eltern nicht darauf ein: "Du verlotterst dann vollends..." Womit sie wahrscheinlich Recht gehabt hätten. Zum Einen dachten viele von uns an alles nur nicht an die Penne in der Nachwendezeit, zum Anderen wurden auf das Ostberliner Gymnasium, auf das ich wechselte, die ganz scharfen Lehrkörper geschickt (mein Klassenlehrer mal ausgenommen). Um nicht in den Verruf verweichlichter Ossi-Lehrer zu kommen, hat man den ganz harten Hund ausgepackt (zumindest subjektiv an meinem Berliner Gymnasium und auch im Vergleich zum Tuttlinger).
Die Umstellung - oder eben Kulturschock - von der Großstadt zum Dorf war natürlich enorm. Ich bin ein Großstadtkind und werde es wohl bleiben. Dass sich die Eingewöhnung in Tuttlingen sehr angenehm und schnell gestaltete, lag nicht zuletzt auch an den Schwaben. Ganz wider Erwarten und gegen all die Vorurteile, die man so erzählt bekommt, wenn man sagt, dass man nach Schwaben zieht.
Ich habe mich in Tuttlingen recht schnell assimiliert. Ich kann ganz passabel Schwäbisch, auch wenn ich das Tuttlinger Schwäbisch nicht drauf habe. Ich kann nicht zwischen Nendinger, Fridinger, Mühlheimer oder eben Tuttlinger Schwäbisch unterscheiden, aber ich verstehe sie zumindest alle - das ist auch eine Leistung. Und ich fange an zu schwäbeln, wenn ich am Autobahnschild "Willkommen in Baden-Württemberg" vorbeikomme.
Ich hatte mich recht schnell soweit eingelebt, dass ich bei einem Besuch in der alten Berliner Heimat in einer Bäckerei in breitestem Berlinerisch (das habe ich nicht verlernt und kann ganz gut switchen) ein Wecken ordern wollte. "Schrippe heißt ditt bei uns!" musste ich mir anhören, recht hatte sie, aber es viel mir wirklich in dem Moment nicht ein.
Ich habe mich an die Sperrstunden in den Kneipen gewöhnt bzw. schnell Stammkneipen ausgesucht, in denen man dann als Inventar auch mal länger bleiben konnte. Ich wurde im Flaschenbier trinken (O.K., das konnte ich auch schon früher) und Büxbier hören unterwiesen. Und nicht nur Jesus konnte übers Wasser gehen, auch der Tuttlinger über die Donau.
Ich lernte die schwäbisch-alemannische Fastnet lieben und die Gegensätze zwischen Schwaben und Badensern kennen. Wobei letzteres bei den jüngeren Semestern zum Großteil nur noch nette Frotzeleien zwischen den "Volksgruppen" beinhaltet, bei den älteren jedoch auch heutzutage noch in Aversionen ausartet, wie sie vielleicht noch zwischen den schwatz-gelben und den blau-weißen anzutreffen sind. So wie ein eingefleischter Schalker niemals Dortmunder Boden betreten würde, so gibt es auch einige (meist ältere) Schwaben, die noch nie bei den "Gelbfüßlern" waren.
Direkt an der Grenze zwischen dem Königreich Württemberg und dem Großherzogtum Baden wohnend, konnte ich von beiden Stämmen das beste annehmen. Ich weiß die schwäbische Küche zu schätzen, was sich allerdings nicht auf die Getränke ausweitet. Für Bier und Wein sind die Badenser zuständig. Reutlinger Wein ist so sauer, dass er einem ein Loch in den Magen ätzt, dagegen hilft dann nur noch Tübinger, der ist so sauer, dass er das Loch wieder zusammenzieht.
Ich habe aber auch ein stockkonservatives Land kennengelernt. Ein Land, in dem auch ein Sack Erdäpfel gewählt worden wäre, wenn CDU drauf gestanden hätte (obwohl Spätzle und Nudlä und nicht Kartoffeln zu den Leibspeisen der Schwaben gehören). Umso erstaunlicher war es, dass die baden-württembergische CDU es schaffen konnte, das urschwarze Baden-Württemberg zu verlieren. Für viele Baden-Württemberger ging an diesem Wahlabend das Abendland unter: "Wir können alles - außer wählen!"
Nun heißt es Abschied nehmen. Eigentlich habe ich mich bereits 1997 mit der Entscheidung in Essen zu studieren aus Baden-Württemberg verabschiedet. Durch regelmäßige Fronturlaube bei den Eltern und Besuche der "alten Bekannten" hatte ich aber quasi immer noch einen Koffer in Berlin Tuttlingen. Dieser ist nun mit dem Umzug meiner Eltern in die sächsische Landeshauptstadt (der mit dem grün-roten Wahlsieg nichts zu tun hat) auch weg. Es heißt also endgültig Abschied nehmen. Was mich ein bisschen melancholisch stimmt (aber wirklich nur ein bisschen). Ich habe mich hier sieben Jahre (plus 14 als Gast) sau wohl gefühlt. Und ich werde immer wieder gerne auf eine Schorle vorbeikommen. Ade.